Nach der Wahl in Nordzypern

Ankara am Zug

Von Gerd Höhler

Ein historisches Votum hätte es werden sollen, eine Schicksalswahl, meinten die Politiker im türkisch kontrollierten Nordzypern.  Herausgekommen ist ein parlamentarisches Patt, das die Bemühungen um eine Lösung der Zypernfrage auf Monate hinaus lähmen könnte.  Doch das ändert nichts an der Signalwirkung dieser Abstimmung.  Sie war ein klares Votum für die Wiedervereinigung und eine deutliche Absage an den Volksgruppenchef Rauf Denktasch, der Nordzypern in eine verhängnisvolle politische und wirtschaftliche Isolation geführt hat.  Rechnet man die Stimmenanteile aller Oppositionsparteien zusammen, haben mehr als 50 Prozent der Wähler Denktasch den Rücken gekehrt.  Dass die Regierungsparteien nicht noch mehr Stimmen verloren, ist allein den Siedlern vom anatolischen Festland zu verdanken, die Denktasch zu zehntausenden nach Nordzypern holte.  Wie er haben sie an einer Wiedervereinigung der geteilten Insel kein Interesse, denn dann müssten die meisten von ihnen die Rückreise in die Türkei antreten.

Die dortige Regierung gerät jetzt in Zugzwang.  Von den Politikern in Nordzypern sind angesichts des Patts im neuen Parlament in naher Zukunft kaum Initiativen zu einer Lösung der Zypernfrage zu erwarten.  Ministerpräsident Tayyip Erdogan wäre wohl ein Wahlsieg der Opposition nicht ungelegen gekommen.  Das hätte ihm einen Vorwand geliefert, den störrischen Denktasch zu umgehen.  Erdogan weiß: Er muss die Zypernfrage lösen, wenn die angestrebten Beitrittsverhandlungen mit der EU nicht ein Wunschtraum bleiben sollen. Jetzt ist Ankara am Zug.  Die Zeit drängt, denn Ende 2004 wollen die EU-Regierungschefs prüfen, ob die Türkei reif ist für Beitrittsgespräche.

 

Stuttgarter Zeitung, Dienstag, 16. Dezember 2003, Seite 3